Visual User Journeys als Tool in der Produktgestaltung

Julian Goretzky

Julian Goretzky

Geschäftsführer
03.02.2024 · 5 min Lesezeit

 
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Human-Centered-Design (HCD) oder User-Centered-Design (UCD) gehören mittlerweile fast zum Standard-Wording der Designsprache. Sicherlich zu Recht, denn in einer immer komplexer werdenden und hoch technologisierten Welt, kann der Schnittstelle zum Menschen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Anwendung der eben genannten Design-Methoden soll betonen und letztlich auch dazu führen, dass in der Gestaltung die Bedürfnisse potentieller Nutzer:Innen oder sogar auch deren Auswirkungen auf andere Stakeholder (im HCD) in den Mittelpunkt gestellt wurden. Die Methoden des HCD oder UCD sollen den Nutzen von Produkten erhöhen, da sie in enger Abstimmung mit den Anforderungen der Nutzenden entwickelt wurden.

“Das Human-Centered-Design schließt nicht nur die Nutzer*Innen selbst, sondern auch weitere Stakeholder mit ein.” – Adrian Haase, vinter

Human-Centered-Design ist als Garant für gute Usability und User-Experience zu verstehen, was so viel heißt wie: Es lässt sich gut benutzen, bringt den Nutzer:innen einen Mehrwert und sie haben Spaß bei der Benutzung –– was zunächst simpel klingt, stellt selbst Weltkonzerne wie Apple und Google vor große Herausforderungen. Aber nicht nur Software-Unternehmen, sondern auch Mittelständler und Start-Ups, die Physische Produkte auf den Markt bringen, müssen die Bedürfnisse ihrer Nutzer:innen genau kennen (lernen). Sicher ist, der Aufwand eines guten User-Research zahlt sich aus. Denn nie waren Wettbewerber so international, so nah und so ähnlich wie heute. Auch die Qualitätsstandards haben sich mittlerweile einander angeglichen und technische Bauteile stammen nicht selten von den gleichen Lieferanten. Den spürbaren Unterschied für die Nutzer*Innen bringt primär die Art und Weise der Umsetzung bzw. der Übersetzung von Anforderungen in Produkte und Services. Zu dem hohen Level der Ingenieurs- und Programmierleistungen macht die Gestaltung auf User-Experience (UX) und Usability-Ebene, die Unique Selling Points (USP) eines Produktes aus – und stellt mithin den entscheidenden Unterschied gegenüber Wettbewerbern dar.

Es gibt zahlreiche Methoden, Nutzer*Innenbedürfnisse zu erfassen und zu bewerten. Eine davon sollte aber nie fehlen und unterstützt die Arbeitsprozesse im UCD und HCD: die Visual-User-Journey. User-Journeys oder auch Customer-Journeys genannt, finden im Marketing und Design Anwendung, um die (möglichen) Touchpoints eines Produktes, einer Marke oder einer Dienstleistung mit den NutzerInnen festzuhalten. Die Darstellung erfolgt in Diagrammen, Zeitleisten, Abfolgen, die nicht selten in einem Gewirr aus Pfeilen, Wörtern, Farben und Formen enden. Verstehen, was genau abgebildet wird, tun höchstens die Ersteller selbst (ein Beispiel für übersichtliche Mind-Maps wird sich wohl auch kaum finden lassen).

“User-Journeys bringen nichts, wenn sie nicht zum partizipieren einladen und keine Lust wecken, sich mit ihnen zu beschäftigen.” – Julian Goretzky, vinter

Ist die Arbeit dann umsonst? Fast. Denn das eigentliche Ziel sollte sein, NutzerInnen zu verstehen, die scheinbar unwichtigen Details zu erfassen und alle, die in einem Unternehmen an Entwicklungsprozessen beteiligt sind, einzubeziehen. Dafür muss es einerseits Spaß machen, sich mit den Inhalten zu beschäftigen und andererseits jedem die Möglichkeit geben mitzumachen und zu verstehen, um was es geht. Eine Arbeitsweise, die zum ständigen Verwerfen und Umstrukturieren einlädt, ist dafür ein Muss. Aber wie lässt sich ein Prozess abbilden, der zwangsläufig einen hohen Detailgrad erfordert und gleichzeitig jedem offenstehen soll? In der Filmbranche dient u.a. das Storyboarding als Planungstool. Es dient der Kommunikation im Produktions-Team, komplexe Szenen mit aussagekräftigen Zeichnungen durchzuplanen. Dabei schließt es die Lücke zwischen Geschichten die in Worten festgehalten wurden und deren Übersetzung in bewegte Bilder. Übertragen auf die Produktentwicklung, würden Storyboards hier die Verbindung zwischen Nutzungskontext, d.h. dem Alltag potentieller Nutzer:innen und dem Produkt herzustellen.

Das als Visual-User-Journey bezeichnete Tool in der Produktentwicklung mag auf den ersten Blick wie ein Film-Storyboard erscheinen und macht sich auch wesentliche Züge dessen zu eigen. Allerdings bildet die Visual-User-Journey nicht ein Drehbuch ab, sondern ihre Geschichte entsteht nach und nach aus den Bildern heraus. Mit jedem entstandenen Bild soll die Geschichte weiter gedacht werden. Der rote Faden wird lediglich durch wenige Rahmenbedingungen bestimmt und definiert sich beispielsweise aus den Eigenschaften der Persona(s) und ihrer Einbettung in eine Szenerie. Dieses grundsätzliche Setting ist leicht zu kommunizieren, alles andere formt der Prozess. Je nach Einsatz der User-Journey in der Produktentwicklung, erfüllt sie unterschieldliche Zwecke.

Ganz zu Beginn hilft sie potentielle Nutzer:innenbedürfnisse anhand von erstellten Tagesabläufen aufzudecken, als möglichen Anknüpfungspunkt für die zu entwickelnde Lösung. Dafür können vorab typische Alltags-Szenerien, in welchen den Personas Herausforderungen entgegentreten, aufgeschlüsselt werden. Die Gefühlswelt in Abhängigkeit von bestimmten Situationen oder äußeren Einflüssen, sollte stets Beachtung finden. Im weiteren können diese dann durch weitere Abläufe, die dann unter Einfluss der neuartigen Lösung stehen, erweitert und verändert werden – welchen Mehrwert erfahren die Nutzer:innen? Was kann die Lösung, was kann sie nicht? Final können präzisierte Bildabfolgen erstellt werden, die beispielsweise nur noch auf das Lösen ergonomischer Herausforderungen abzielen. Die ErstellerInnen der User-Journeys sollen ein immer tiefergehendes Verständnis für die Gefühls- und Alltagswelt ihrer Zielgruppe bekommen.

“Durch konkrete Darstellungen wird die Kommunikation im Entwicklungsteam effektiver.” – Julian Goretzky, vinter

Die Journeys unterstützen die Teamarbeit, indem sie zu Diskussionen anregen, aber vor allem genau aufzeigen, wer, was, wie meint. Ein kleines Beispiel: das Fahrrad. Sie als Leser:in haben sicherlich ein klares Bild vor Augen. Und garantiert hat jeder von Ihnen etwas völlig anderes im Sinn. Ein Mountainbike, ein Rennrad, das staubige Klapprad im Keller, ein schickes E-Bike oder vielleicht auch nichts spezifisches, gar nur ein Piktogramm? Details, über die für gewöhnlich nicht gesprochen wird, vielleicht weil sie zu banal erscheinen, treten in Visual-User-Journeys unvermeidbar zutage. Genau das Gleiche gilt auch für die kleinen Hürden des Alltags, die in der Bildsprache festgehalten werden (müssen). Die Denkprozesse über Produkteigenschaften, Anwendungsszenarien und Alltagssituationen, bekommen zunehmend Schärfe und schaffen eine Awareness für weitere Fragestellungen, die mit anderen Tools, z.B. User-Workshops, beantwortet werden können. Bilder sagen (meist) mehr als tausend Worte; probieren Sie es aus.

 
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Das Arbeiten mit Visual-User-Journeys

Mit Visual-User-Journeys (VUJ) zielführend arbeiten zu können, muss die Organisation der Bilder das organische Wachstum zulassen. Im Unterschied zu einem Comic oder Storyboard, Folgt die VUJ keiner vorher festgelegten Geschichte. Sie entsteht aus dem Prozess und lebt von der Neu- und Umstrukturierung, zu der sie von Anfang an einladen soll.

Dafür eignen sich einzelne Bilder, die z.B. mit Pinnadeln oder Magneten auf einer möglichst großen Wandfläche angebracht werden können. Es empfiehlt sich zuvor ein Format mit Rahmen festzulegen, das sich für den individuellen Zeichenstil eignet. DIN A6 Papier hat sich beispielsweise für Bleistiftzeichnungen bewährt: Es lässt sich leicht ausfüllen, bietet genug Raum für Details und ist übersichtlich zu strukturieren. Ein einheitliches Format hat vereinfacht den Zeichner:innen die Arbeit und lässt zunächst keine Hierarchien der Bilder untereinander zu, was insbesondere zu Beginn wichtig ist, um Details die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Hinzu kommt, dass sich die Bilder leichter austauschen und anordnen lassen. Wird eine bestimmte Zielgruppe adressiert, was der Regelfall ist, helfen Personas dabei, den Entwickler:innen immer wieder vor Augen zu führen, wen sie erreichen wollen. Der Sinn von Personas ist es, zu konkretisieren und zu fokussieren, um priorisieren zu können. Ein hoher Abstraktionsgrad ist hier selbstredend nicht zielführend.

“Gute Kommunikation kostet Zeit. Schlechte Kommunikation kostet mehr Zeit." – Adrian Haase, vinter

Sind diese Grundlagen gelegt, folgt die Visualisierungsarbeit. Essentiell ist hier ein Mindeststandard an Zeichenqualität zu gewährleisten, der kontinuierlich beibehalten werden kann. Geübte Zeichner:innen finden schnell einen aussagekräftigen Stil, der Situationen, Emotionen und notwendige Details abbilden kann. Es empfiehlt sich nur wenige Zeichner:innen zu beauftragen, die sich tief in die Materie einarbeiten und neuen Input schnell umsetzen können.

Tipps für gelungene Visual User Journeys:

  • Jedes Bild hat eine Kernaussage.

  • Nicht zu viele Abläufe in einem Bild unterbringen.

  • Dreidimensionales Arbeiten kann häufig mehr Informationen verpacken.

  • Gute Bilder brauchen wenig zusätzliche Beschreibungen.

  • Bei der Anordnung der Bilder genug Raum für Anmerkungen mit Klebezetteln lassen.

  • Der Zeichenstil leistet es, Emotionen nach außen zu tragen.

  • Die BetrachterInnen können die Bildaussagen nachvollziehen.

  • Die Persona ist nicht der Businessman, den es nur auf Stockfotos gibt.

Viel Spaß beim Visualisieren, Strukturieren, Fokussieren und vor allem dem Kommunizieren.

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